Auf der 50. Jahresfeier der „Initiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V.“ sowie der „Bayerischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Kreise e.V.“ hielt der Psychologe Werner Gross einen bemerkenswerten Vortrag. Unter dem Titel „Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität: Von der Janusköpfigkeit des Glaubens“ setzte er sich kritisch und differenziert mit der ambivalenten Rolle von Religion im Leben des Einzelnen und in der Gesellschaft auseinander. Vor über 60 Teilnehmern stieß seine Analyse auf große Resonanz – und rief lebhafte Diskussionen hervor. Der Vortrag wird demnächst in einem Tagungsband veröffentlicht – wir werfen vorab einen Blick auf zentrale Gedanken.
Glaube als Ressource: Die heilsame Seite der Religion
Werner Gross betont in seinem Vortrag zunächst die konstruktiven Potenziale religiöser Überzeugungen. Viele Menschen finden im Glauben Trost, Sinn und Orientierung – gerade in Krisenzeiten. Rituale, Gebete oder Gedanken an eine höhere Ordnung können helfen, psychische Belastungen zu mildern, Angst zu bewältigen und Resilienz zu stärken.
Religion kann hier als Ressource für persönliche Entwicklung und kollektive Identität fungieren. Spirituelle Gemeinschaften stiften Zugehörigkeit, fördern soziales Engagement und regen zu ethischen Reflexionen an. Auch in der psychotherapeutischen Praxis zeigt sich: Für gläubige Menschen kann der Bezug zu Transzendenz ein bedeutender Teil ihrer Heilungsprozesse sein.
Die dunkle Seite des Glaubens: Wenn Religion zur Abhängigkeit wird
Doch Gross beschränkt sich nicht auf diese positive Perspektive. Die „Janusköpfigkeit“ des Glaubens zeigt sich gerade dort, wo religiöse Systeme Kontrolle statt Freiheit fördern. Fundamentalistische Weltbilder, rigide Dogmen oder autoritäre Glaubensführer können Menschen in seelische Abhängigkeit treiben – mit teilweise gravierenden psychischen Folgen.
In seiner Arbeit mit Betroffenen religiösen Missbrauchs begegnet Werner Gross immer wieder Fällen, in denen Religion zur Quelle von Angst, Schuld und Selbstverleugnung wurde. Nicht selten führt dies zu schweren inneren Konflikten, zur sozialen Isolation oder sogar zu depressiven Erkrankungen. In solchen Fällen wird der ursprünglich sinnstiftende Glaube zur seelischen Belastung.
Religiöse Bildung als Prävention: Aufklärung statt Indoktrination
Wie lässt sich verhindern, dass Religion in Abhängigkeit oder Extremismus umschlägt? Gross plädiert für eine offene Auseinandersetzung mit Sinnfragen und eine differenzierte religiöse Bildung – in Familien, Schulen und Gemeinden. Kinder und Jugendliche sollten nicht nur lernen, was geglaubt wird, sondern auch wie man mit Religion kritisch, reflektiert und freiheitlich umgehen kann.
Zugleich fordert er gesellschaftliche Wachsamkeit gegenüber religiösem Machtmissbrauch. Initiativen wie die Gastgeber der Veranstaltung – die „Initiative zur Hilfe gegen seelische Abhängigkeit und religiösen Extremismus e.V.“ – leisten hier wertvolle Arbeit. Sie schaffen Räume für Austausch, Beratung und Hilfe zur Selbstbefreiung aus destruktiven Glaubenssystemen.
Fazit: Zwischen Sinnstiftung und Manipulation – Religion braucht Verantwortung
Werner Gross gelingt es, Religion weder zu idealisieren noch zu verteufeln. Stattdessen zeigt er auf, wie ambivalent ihre Wirkung sein kann – je nachdem, ob sie dem Menschen dient oder ihn beherrscht: Geht man in der Religion auf oder geht man in der Religion unter? Der Glaube kann Quelle von Kraft und Orientierung sein – oder Instrument zur Unterdrückung und Entmündigung.
Der Vortrag machte deutlich: Religion ist kein Relikt aus alten Zeiten, sondern ein höchst aktuelles Thema – gerade im Spannungsfeld von individueller Freiheit, kollektiver Identität und gesellschaftlicher Pluralität. Die Auseinandersetzung mit ihrer „Janusköpfigkeit“ bleibt nicht nur eine akademische, sondern auch eine zutiefst praktische und menschliche Aufgabe. Weitere Informationen finde Sie im Buch von Werner Gross: „Meinetwegen – nenn es Gott: Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität“ (Springer-Verlag).