Weißt du wirklich, was du glaubst (oder glauben sollst)?

December 12, 20255 min read

Symbolbild zur Religion: linke Bildhälfte zeigt die positiven Seiten von Glaube und Gemeinschaft im warmen Licht, rechte Bildhälfte die problematischen Aspekte wie Schuld, Angst und Dogmatismus im Schatten – ausgewogene Darstellung der Ambivalenz von Religion und Glaubenstest nach Werner Gross.

Je kleiner der Geist, umso konkreter muss das Gottesbild sein - Ein Glaubenstest

Die unbewusste Gewissheit

Viele Menschen glauben, sie wissen, was sie glauben. In Wirklichkeit sind viele Glaubensinhalte eher unbewusst und ihnen ist gar nicht klar, was sie eigentlich glauben (oder glauben sollen).

Viele bezeichnen sich beispielsweise als Christen und wissen nur ganz diffus, was das Christentum eigentlich ausmacht. Sie folgen religiösen Formeln – manchmal aus ihrer Kindheit, manchmal aus ihrer Kultur – ohne sie je wirklich bewusst geprüft zu haben.

Das ist das zentrale Problem, das ich in Kapitel 4 meines Buches "Meinetwegen – nenn es Gott - Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität" untersuche: Die Frage nach der Bewusstheit unseres Glaubens.

Je verwirrter der Geist, umso stärker der Wunsch nach Gewissheit

Eine zentrale Beobachtung aus meiner therapeutischen Praxis lautet: Je kleiner (oder verwirrter) der Geist, umso konkreter müssen Gottesbild und Gewissheit sein.

Das klingt provokativ, ist aber - psychologisch betrachtet - genau richtig. Menschen, die sich unsicher fühlen, die verwirrt sind oder wenig Reife und/oder Bildung haben, brauchen oft sehr konkrete, bildhafte Vorstellungen von Gott – einen Gott, der belohnt oder bestraft, der eingreift, der konkrete Gebote gibt. Das gibt ihnen Halt und Orientierung. Das ist nicht schlecht – es ist menschlich.

Aber es zeigt auch: Unser Glaube ist nicht losgelöst von unserer psychischen Verfassung, unserer intellektuellen Fähigkeit, unserer Lebensgeschichte. Der Glaube ist immer auch eine Funktion unseres psychologischen Verfassung.

Was Religion leistet – und wo sie schadet

In diesem Kapitel geht es nicht nur um die Frage „Was glaubst du?", sondern auch um: Wie wirkt Religion auf dich?

Gläubige Menschen berichten von großem Nutzen ihres Glaubens:

  • Orientierung und Leitlinie im Leben

  • Unterstützung in Krisen und schwierigen Zeiten

  • Sinn und Ziel

  • Gemeinschaft und Zugehörigkeit

Gleichzeitig zeigt sich in meiner Arbeit als Psychotherapeut: Religion kann auch einengen, bevormunden und in schweren Fällen zu religiösen Neurosen führen – zu Ängsten, Depressionen, Zwangsstörungen, Schuldgefühlen, die sich um religiöse Inhalte drehen.

Religion ist also nicht einfach „gut" oder „schlecht". Sie ist ambivalent. Das zu verstehen ist wichtig.

Die Typologie der Gläubigen

In meinem Buch unterscheide ich verschiedene Typen von gläubigen Menschen – von: dem gutgläubigen und reflektierten Gläubigen (der bewusst glaubt und gleichzeitig kritisch denkt), über den zwanghaft-ängstlichen Gläubigen (der von Angst vor Strafe getrieben ist), und den dogmatisch-besserwisserischen Gläubigen (der absolute Gewissheit hat und diese anderen aufzwingt), bis hin zum Kirchenhasser, Skeptiker und Agnostiker (der Religion ablehnt oder für unsinnig erklärt).

Jeder dieser Typen hat seine eigene psychische Dynamik. Jeder hat seinen eigenen Grund, warum er so glaubt - oder eben auch nicht.

Der kleine Glaubenstest

Um selbst zu erkunden, wo du stehst, habe ich einen kleinen Glaubenstest entwickelt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Christentum – aber viele der Fragen lassen sich auch auf andere Religionen übertragen.

Dieser Test ist keine Prüfung. Es gibt hier kein „richtig" oder „falsch". Es geht darum, dass du dir selbst bewusst machst, was du eigentlich glaubst – nicht, was du glauben sollst.

Nimm dir Zeit, die Fragen zu durchdenken. Am besten schreibst du deine Antworten auf. Und achte nicht nur auf die Antwort selbst, sondern auch auf deine innere Reaktion: Klarheit, Unsicherheit, Widerstand, Verwirrung, Unbehagen. All diese Reaktionen geben Dir wichtige Erkenntnisse über Deine (mehr oder weniger bewusste) Einstellung zur Religion.

Der kleine Glaubenstest (Schwerpunkt Christentum)

  1. Glauben Sie, dass es Gott gibt? Wenn ja – was denken Sie über ihn und was können Sie über ihn aussagen?

  2. Was ist für Sie Gott (z. B.: „Gott ist eine personale Einheit", „Gott ist eine unpersönliche Energie", „Gott ist in allem", „Gott existiert für mich nicht" …)?

  3. Wenn es für Sie einen Gott gibt – gibt es für Sie auch einen Gegenspieler Gottes (personal: Satan, Teufel, Luzifer oder: das Böse/Schlechte)?

  4. Ist für Sie Jesus Christus menschgewordener Gott – und überhaupt ein Gott?

  5. Glauben Sie, dass Jesus durch seinen Sühnetod für uns gestorben ist?

  6. Glauben Sie an die „unbefleckte Empfängnis" Marias (Jungfrauengeburt), durch die Jesus zur Welt gekommen sein soll, da Jesus vom Heiligen Geist gezeugt worden sei?

  7. Glauben Sie an die Wiederauferstehung von Jesus nach seinem Tode?

  8. Glauben Sie an die (leibliche) Himmelfahrt von Christus (und/oder) Maria?

  9. Was ist für Sie die Dreifaltigkeit (Gott Vater – Sohn – Heiliger Geist)?

  10. Für Katholiken: Ist für Sie der Papst Stellvertreter Gottes auf Erden?

  11. Halten Sie ihn, wenn er „ex cathedra" spricht, für unfehlbar?

  12. Halten Sie die Bibel (oder den Koran, die Thora, die Bhagavad Gita …) für ein heiliges Buch? Mit welcher Begründung?

  13. Gibt es für Sie andere Wirklichkeiten? Wie sehen sie aus und wodurch sind sie entstanden?

  14. Was passiert aus Ihrer Sicht nach dem Tod – für Sie und mit Ihnen?

  15. Glauben Sie an das Jüngste Gericht oder an Reinkarnation – oder an was?

  16. Wenn wir nach dem Jüngsten Gericht wieder fleischlich auferstehen – in welchem Körper tun wir das? Als 6-Jähriger, als man noch jeden Quatsch geglaubt hat? Als 18-Jähriger, als man gar nichts mehr geglaubt hat? Oder als 58-Jähriger, als man wieder angefangen hat zu glauben?

  17. Gibt es für Sie das „ewige Leben" (nach dem Tode)?

  18. Gibt es für Sie Himmel und Hölle? Wie sehen sie aus?

  19. Symbolisierungsfähigkeit: Gibt es für Sie etwas, was heilig ist? Was ist es – und warum ist es für Sie heilig?

  20. Was haben Sie noch für Fragen an Ihre Religion?

(aus: Gross, Werner: Meinetwegen - nenn es Gott: Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität)

Was die Antworten dir sagen

Wenn du diesen Test machst, wirst du vermutlich feststellen: An manchen Fragen bist du sehr klar und sicher. An anderen spürst du innere Spannung oder Unsicherheit. Wieder andere lösen Widerstand oder sogar Ärger aus. Und bei einigen merkst du, dass du noch nie wirklich über diese Frage nachgedacht hast. Genau das ist der therapeutische Wert dieses Tests. Er zeigt dir, wo dein persönlicher Glaube wirklich ist – und wo du einfach Überliefertes wiederholst. Er kann für Dich ein Werkzeug der Selbstkenntnis sein. In meinem Verständnis von Psychotherapie ist die Bewusstwerdung des eigenen Glaubens ein zentraler Weg zu innerer Freiheit. Du darfst glauben, was du glaubst. Aber du solltest es bewusst tun – nicht unbewusst, nicht aus Angst, nicht aus bloßer Gewohnheit. Dieser kleine Glaubenstest ist eine Einladung dazu.

Ketzereinwurf: Ich denke, dass man sich alle möglichen Spinnereien ausdenken kann und darf. Man kann auch dazu alle möglichen Theorien entwickeln. Allerdings sollten sie einen Realitätstest aushalten können. D. h., dass sie nicht den bewiesenen Erkenntnissen der Wissenschaften widersprechen dürfen.

Dipl.-Psych. Werner Gross ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmensberater sowie Buchautor. Er leitet seit vielen Jahren eine psychologische Praxis in Gelnhausen und führt seit über 30 Jahren Existenzgründungsseminare für Psychotherapeut:innen durch. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Psychotherapie-Ausbildungsinstituten.

Werner Gross

Dipl.-Psych. Werner Gross ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmensberater sowie Buchautor. Er leitet seit vielen Jahren eine psychologische Praxis in Gelnhausen und führt seit über 30 Jahren Existenzgründungsseminare für Psychotherapeut:innen durch. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Psychotherapie-Ausbildungsinstituten.

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