Die Wahrheit geht unter- aber stirbt nicht

Die Wahrheit geht manchmal unter – aber sie stirbt nicht

November 18, 20254 min read

Die Wahrheit geht manchmal unter – aber sie stirbt nicht

Sinnfragen sind in der heutigen Krisenzeit in aller Munde. Allerdings: traditioneller Glaube und christliche Religiosität haben es derzeit bei uns nicht gerade leicht. Einerseits boomen Psychomarkt und Esoterikszene, denn viele Menschen suchen sich Hilfe in mehr oder weniger abstrusen Sinnsystemen – von Astrologie und Aura‑Soma über Edelsteintherapie, indianischen Ohrkerzen und Schamanismus bis hin zu Kartenlesen und Bachblüten. Andererseits haben hierzulande die großen Religionen längst ihre Unschuld verloren. Für viele haben die etablierten Glaubenssysteme heutzutage ein zwiespältiges Gesicht: Auf der einen Seite sind sie für Gläubige seelische Unterstützung und Hilfe (nicht nur) in Krisensituationen – auf der anderen Seite geschehen in ihrem Namen Selbstmordattentate, Religionskriege und unter ihrem Deckmantel blüht(e) der sexuelle Missbrauch an Kindern.

Was bedeutet Glaube?

Das Wort Glaube hat eine religiöse und eine alltägliche Dimension. Im Alltag verbirgt sich dahinter die grundsätzliche Bereitschaft einen bestimmten Sachverhalt für wahr zu halten, den wir nicht geprüft haben oder nicht überprüfen können: Man könnte sagen: Glaube ist Gewissheit ohne Beweise. Da individueller Glaube etwas hochgradig Subjektives ist und man Gott (mit großer Wahrscheinlichkeit) nicht beweisen kann, trifft das natürlich auch für die Religion zu.

„Der Erfolg des lieben Gottes hängt damit zusammen, dass man ihn nicht sieht.“

Im religiösen Bereich ist der Glaube dann hilfreich, wenn die religiöse Sichtweise und Weltanschauung gut integriert ist. Er ist dann eine Form von „Urvertrauen“, die Sicherheit geben kann und das Leben vereinfacht – wenn man gutgläubig ist. Glaube und Religiosität können aber auch problematisch werden, z.B. wenn er in der Kindheit dem Heranwachsenden nicht angemessen nahegebracht wurde (z.B. durch Zwang). Dann ist der Glaube ein ungutes „Introjekt“, das in einer Person wie ein Pfahl im Fleisch vor sich hin eitert und nicht integriert werden kann, weil es in der persönlichen Lebensgeschichte Probleme mit dem religiösen Glaubenssystem gab und gibt. Da Religion eher sagt „Du sollst“, spricht man heute lieber von Spiritualität, denn dort heißt es unverbindlicher: „Du darfst“.

Der Taumel der Freiheit

Wir alle haben in uns ein Spannungsfeld aus zwei widerstrebenden Bedürfnissen: Wir haben einerseits den Wunsch nach Autonomie, Freiheit, Selbstständigkeit, Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. Andererseits gibt es in uns das Bedürfnis nach Sicherheit, nach Aufgehobensein in einem sinnvollen, größeren Ganzen, in dem wir uns vertrauensvoll fallenlassen können. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard hat diesen inneren Zwiespalt den „Taumel der Freiheit“ genannt.

Faith vs. Believe

Das deutsche Wort „Glauben“ wird im Englischen mit zwei sehr unterschiedlichen Begriffen belegt: Es wird differenziert zwischen „faith“ und „believe“. Unter faith wird Glauben im Sinne von allgemeinem Gottvertrauen als tragender und prägender Kraft des menschlichen Daseins verstanden. Man könnte auch sagen, es handelt sich um eine Art „Urvertrauen“, das in allen länger bestehenden Religionen in allen Kulturen zu allen Zeiten identisch ist. Wenn es gelingt, diese undogmatische Seite der Religion im Blick zu haben, kann Religion heilsam sein.

Unter believe versteht man im Gegensatz dazu die konkreten Glaubensinhalte und Glaubenssätze der einzelnen Religionen. Diese Glaubensinhalte sind in einem hohen Maße kulturell und durch den Zeitgeist bei der Entstehung geprägt und mehr oder weniger sinnvoll. Gerade hier unterscheiden sich die verschiedenen Religionen hochgradig und sind der Hintergrund zu den vielen Glaubenskämpfen und Religionskriegen. Motto: „Nur wir haben den richtigen Glauben und wir müssen euch missionieren. Zur Not mit Feuer, Schwert und Gewalt.“

„Alle Religionen scheinen den Ignoranten göttlich, den Politikern nützlich und den Philosophen lächerlich.“ – Lucretius (98 – 55 v. Chr., römischer Dichter)

Die Janusköpfigkeit der Religionen

Hier zeigt sich auch die Janusköpfigkeit der Religionen im Laufe der Geschichte: Alle Kulturen hatten ihre Religion, die sie meistens auch für die einzig richtige und ewig gültige hielten – bis dann die nächsten neuen Götter erschienen. So sind die Dogmen vieler Religionen in der Zeit ihrer Entstehung kultur‑ und zeitgeistgeprägt und voller unsinniger Glaubenssätze und Regeln.

„Gott ist das einzige Wesen, das, um zu herrschen, noch nicht mal existieren muss.“ – Charles Baudelaire

Nicht umsonst fragt die atheistisch orientierte Giordano‑Bruno‑Stiftung (GBS): „Glaubst Du noch oder weißt Du schon?“ und fordert: „Nachdenken statt nachbeten“. Aber was können wir schon wirklich gesichert wissen? Müssen wir lernen, vertrauensvoll mit beiden Beinen fest in der Luft zu stehen?

„Religionen sind wie Leuchtwürmer; sie bedürfen der Dunkelheit, um zu leuchten.“ – Arthur Schopenhauer

Fazit

Glaube denen, die die Wahrheit suchen – nicht denen, die vorgeben, sie schon gefunden zu haben.

Einen differenzierteren Blick auf das Thema liefert das Buch „Meinetwegen – nenn es Gott: Sinn und Unsinn von Religion und Religiosität“ (Springer‑Verlag) von Werner Gross.

Zwischen religiöser Einfalt und wissenschaftlicher Vielfalt

Zwar kann es eine Gnade sein, glauben und vertrauen zu können. Weiter bringen uns allerdings oft die Zweifel.

„Die kleine Wahrheit hat viele Worte. Die große Wahrheit hat nur noch Schweigen.“

Zitate und Gedanken

Wohlwollend verstanden ist der Kerngedanke der meisten Religionen, Hoffnung zu geben und Urvertrauen zu schaffen, und ihre ethischen Prinzipien sind meistens sinnvoll (auch wenn die Umsetzung in der Gesellschaft nur begrenzt gelingt). Allerdings sind die Übergänge zwischen Hoffnung und Illusion leider fließend.

Bevormundende Fürsorglichkeit

Man kann gar nicht wissen, was man alles nicht weiß.

Die subjektive Bedeutung: Persönliche Religiosität

Bei Religiosität handelt es sich meist um die hochgradig individuelle Glaubenserfahrung und Glaubenspraxis der jeweiligen Religion, die den Fokus auf die intrapsychische Verarbeitung des äußeren Glaubenssystems („auf der inneren Bühne“) legt. Man nennt diese Form auch intrinsische Religiosität.

„Du bist näher bei Gott, wenn Du eine Frage stellst, als wenn Du eine Antwort gibst.“ – jüdische Weisheit

Dipl.-Psych. Werner Gross ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmensberater sowie Buchautor. Er leitet seit vielen Jahren eine psychologische Praxis in Gelnhausen und führt seit über 30 Jahren Existenzgründungsseminare für Psychotherapeut:innen durch. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Psychotherapie-Ausbildungsinstituten.

Werner Gross

Dipl.-Psych. Werner Gross ist Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor, Coach, Dozent und Lehrtherapeut, Unternehmensberater sowie Buchautor. Er leitet seit vielen Jahren eine psychologische Praxis in Gelnhausen und führt seit über 30 Jahren Existenzgründungsseminare für Psychotherapeut:innen durch. Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Psychotherapie-Ausbildungsinstituten.

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